Dimension 02 - (Kombinierte) Barrieren
Welche (kombinierten) Barrieren liegen bei den Nutzenden vor?
Das BfArM weist darauf hin, dass bei der Zielgruppe digitaler Pflegeanwendungen mit einer Kombination verschiedener gesundheitlicher Beeinträchtigungen zu rechnen ist, die gemäß § 6 Absatz 6 DiPAV durch barrierefreie Gestaltung berücksichtigt werden müssen. Hersteller sind verpflichtet, sicherzustellen, dass DiPA „wenigstens die Anforderungen an Barrierefreiheit (…) erfüllen, so dass Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen digitale Pflegeanwendungen selbstständig im Pflegealltag nutzen können“ (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2023b, S. 74–75). Besonders zu beachten sind neben physischen Einschränkungen auch sensorische, kognitive und kommunikative Beeinträchtigungen, die spezifische Anpassungen in der Gestaltung erfordern. Dabei reicht es nicht aus, lediglich einzelne Barrieren zu adressieren – vielmehr muss die Zugänglichkeit der Anwendung für unterschiedliche Kombinationen von Einschränkungen gewährleistet werden. (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2023b, S. 75)
Eine dezidierte Betrachtung der Barrieren ist hoch relevant. In der Abschlussveröffentlichung zum Projekt DigiQuarter im Kreis Recklinghausen Digitale Teilhabe und Quartiersentwicklung – Befähigungsstrategien für ältere Menschen im Sozialraum arbeiten Cirkel et al. heraus: Neben Alter und Berufstätigkeit hat auch die subjektiv wahrgenommene Gesundheit Einfluss auf die Internetnutzung. Personen über 50 Jahre, die ihren Gesundheitszustand als exzellent oder sehr gut einschätzen, nutzen das Internet mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 bis 82 Prozent, während bei Menschen mit ausreichendem oder schlechtem Gesundheitszustand die Nutzungsrate auf 65 bzw. 48 Prozent sinkt. Die Autoren verweisen auf ein Dilemma: Gerade jene Personen, die durch digitale Technologien im Alltag entlastet werden könnten, greifen bislang kaum darauf zurück. (vgl. Cirkel & Enste, 2021, S. 34)
Ob dies an mangelnder Bereitschaft oder an tatsächlichen Barrieren liegt, wurde in einer Bremer Umfrage näher untersucht, indem die Befragten ihre körperliche und geistige Verfassung bewerteten. Dabei zeigten sich signifikante Unterschiede hinsichtlich der Internetnutzung in Abhängigkeit von Mobilität, Seh- und Hörvermögen, Fingerfertigkeit und Gedächtnisleistung. Personen mit Einschränkungen in diesen Bereichen wiesen eine geringere Internetnutzung auf, was darauf hindeutet, dass sowohl körperliche als auch kognitive Faktoren eine entscheidende Rolle für den Zugang und die Nutzung digitaler Technologien spielen. (vgl. Kubicek, 2022, S. 105–106)
Jörg Morsbach benennt in seinem Buch Barrierefreiheit im Internet die häufigsten Behinderungsarten mit direkter Auswirkung auf die Nutzung digitaler Technologien. Dazu zählen blinde Menschen mit einer Restsehfähigkeit von bis zu zwei Prozent, hochgradig sehbehinderte Personen mit einer Restsehfähigkeit von bis zu fünf Prozent sowie allgemein sehbehinderte Personen mit einer Restsehfähigkeit von bis zu 30 Prozent. Zudem werden Menschen mit Sehschwäche, beispielsweise Farbenblindheit oder Blendeempfindlichkeit, berücksichtigt. Im Bereich der motorischen Einschränkungen nennt Morsbach Personen ohne Arme oder mit vollständiger Bewegungsunfähigkeit der Arme sowie Menschen mit begrenzter Arm-Motorik, etwa durch Parkinson oder Teillähmungen, und Personen mit vorübergehenden motorischen Einschränkungen wie einem Gipsarm oder einem Tennisarm. Des Weiteren werden Personen mit (Teil-)Analphabetismus oder stark begrenzter Lesefähigkeit sowie Menschen mit geringer Lesefähigkeit, etwa Fremdsprachler oder Personen mit Dyslexie, aufgeführt. Schwerhörige Personen mit nachlassendem Hörvermögen sowie gehörlose Menschen, deren Muttersprache die Deutsche Gebärdensprache ist, stellen ebenfalls relevante Nutzergruppen dar. Abschließend werden psychische Behinderungen wie das Autismus-Syndrom als mögliche Barrieren für die Nutzung digitaler Technologien benannt. (vgl. Morsbach, 2018, S. 73–74)
Die genannten Behinderungsarten zusammengenommen mit den im Leitfaden aufgeführten Beeinträchtigungskategorien physisch, sensorisch, kognitiv und kommunikativ ergeben eine einfach zu erfassende Übersicht über mögliche Barrieren der Nutzendengruppe, die einzeln oder in unterschiedlichen Kombinationen vorliegen können. Unter der Maßgabe, dass die Pflegebedürftigen, die mit einer DiPA interagieren immer mindestens unter dem ersten Pflegegrad eingestuft sind, kann davon ausgegangen werden, dass immer mindestens eine der genannten Beeinträchtigungen vorliegt. Eine Ausnahme bilden lediglich DiPA, die sich an die in Dimension 01 aufgestellten Anwenderkonstellationen 2 (Anwendende sind ausschließlich informell Pflegende) und 5 (Anwendende sind sowohl informell Pflegende als auch formell Pflegende) richten.
Physische Barrieren
- dauerhaft eingeschränkte Motorik (bspw. Personen ohne Arme oder mit vollständiger Bewegungsunfähigkeit der Arme sowie Menschen mit begrenzter Arm-Motorik, etwa durch Parkinson oder Teillähmungen
- vorübergehend eingeschränkte Motorik (Einschränkungen wie Gipsarm oder Tennisarm)
Sensorische Barrieren
- Visuelle Barrieren (sehbehindert bis hin zu Blindheit sowie sonstige Sehschwächen wie beispielsweise Farbenblindheit oder Blendeempfindlichkeit)
- Auditive Barrieren (Schwerhörige Personen mit nachlassendem Hörvermögen sowie gehörlose Menschen)
- Taktile Barrieren
Kognitive Barrieren
- örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung
- Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen
- Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen
- Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen
- Vorliegende psychische Behinderungen (Bspw. Autismus)
Kommunikative Barrieren
- Mitteilen von elementaren Bedürfnissen
- Verstehen von Aufforderungen
- Beteiligen an einem Gespräch
- (Teil-)Analphabetismus oder stark begrenzter Lesefähigkeit sowie Menschen mit geringer Lesefähigkeit, etwa Fremdsprachler oder Personen mit Dyslexie
Grundsätzlich empfiehlt das BfArM, dass sich Hersteller an etablierten Organisationen wie der Bundesfachstelle Barrierefreiheit orientieren können, um aktuelle Vorgaben und bewährte Praktiken in ihre Produkte zu integrieren. Als Orientierungshilfe verweist das BfArM zudem auf die Norm DIN EN ISO 9241-171, die umfassende Leitlinien zur Software-Zugänglichkeit bietet. Vor allem Anhang D und die Checkliste in Anhang C der Norm enthalten spezifische Empfehlungen, die bereits in Kapitel 4.3.3 dargelegt wurden. Explizit hervorgehoben wird hierbei, dass Benutzeroberflächen individualisierbar gestaltet werden sollten, damit visuelle und interaktive Elemente an die Bedürfnisse der Nutzenden angepasst werden können. Bei Personen mit Sehbeeinträchtigungen sollte insbesondere auf eine verbesserte Erkennbarkeit visueller Inhalte geachtet werden sollte, indem Schriftgrößen, Kontraste und Farbgestaltungen entsprechend optimiert werden. Zusätzlich sollten alternative Zugangswege zu den bereitgestellten Informationen ermöglicht werden, etwa durch auditive oder taktile Steuerungsmöglichkeiten. Für Nutzende mit kognitiven Einschränkungen wird die Implementierung von vereinfachten Menüführungen und die Möglichkeit, selten genutzte Bedienelemente auszublenden oder anzupassen, als hilfreiche Maßnahme benannt. (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2023b, S. 74–75)
Digitale Technologien sollten für sehbehinderte und hörgeschädigte Menschen barrierefrei gestaltet sein, da für diese Gruppen bewährte Hilfsmittel zur Nutzung digitaler Medien existieren. Neben der körperlichen Verfassung spielt auch die Gedächtnisleistung eine wesentliche Rolle. Studien zeigen, Personen mit eingeschränkter Gedächtnisleistung haben größere Schwierigkeiten, sich in Kursen oder Trainings vermitteltes Wissen zu merken, was zu Unsicherheiten bei der Nutzung digitaler Technologien führt. Besonders im Umgang mit sicherheitsrelevanten Aspekten, wie der Verwaltung von Passwörtern, besteht häufig die Angst, Fehler zu machen. Daraus lässt sich ableiten, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen für eine digitale Teilhabe in besonderem Maße auf Assistenzleistungen angewiesen sind. (vgl. Kubicek, 2022, S. 107)
Quellen:
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. (2023a, 11. Oktober). DiPA-Leitfaden: (Stand 11.10.2023, Version 1.2). Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/dipa_leitfaden.html?nn=1261776
Cirkel, M. & Enste, P. (2021). Digitale Teilhabe und Quartiersentwicklung: Befähigungsstrategien für ältere Menschen im Sozialraum. Projekt DigiQuartier. https://forum-seniorenarbeit.de/wp-content/uploads/2021/09/Digitale-Teilhabe-und-Quartiersentwicklung_Befaehigungsstrategien-fuer-aeltere-Menschen-im-Sozialraum.pdf
Kubicek, H. (2022). Digitale Teilhabe im Alter: Bedarfsermittlung und Koordination im Rahmen der kommunalen Altenhilfe (1. Auflage). Kellner Verlag.
Morsbach, J. (2018). Barrierefreiheit im Internet: Eine Anleitung für Redakteure und Entscheider. anatom5 perception marketing.